Der Feldzugang stellt in der ethnographischen Forschung vielfach eine zentrale Schwierigkeit dar. Dabei spielt auch eine Rolle, wie das Vertrauen der potenziellen Gesprächspartner:innen gewonnen werden kann.
31.5.23
Im Süden von Wales eingangs eines der dutzenden sogenannten valleys liegt ein Dorf namens Llandyl[i] [‹chlandill›, ausgesprochen mit dem ‹ch› als Kehllaut]. Es ist weder sehr ländlich noch sehr städtisch gelegen und entspricht ziemlich genau dem Bild eines walisischen Durchschnittsdorfs – denn wie viele Ortschaften in den valleys ist auch dieses zu Beginn des industriellen Zeitalters um eine Kohlemine herum entstanden.
Von den lebhaften Strassen, Kneipen und der lokalen Industrie ist jedoch nicht viel übriggeblieben. Das Dorfbild ist heute eher trostlos und statt einer Vielzahl von Pubs und Lebensmittelläden reihen sich ein paar Take-away-Läden sowie der eine oder andere Barbershop oder ein Nagelstudio die Hauptstrasse entlang. Die wenigen Pubs, die den Bewohner:innen erhalten geblieben sind, sind oftmals spärlich besucht oder fungieren als Restaurants – die restlichen wurden in Wohnflächen umfunktioniert.
Hier verbrachte ich im Herbst/Winter 2022 vier Monate für die Feldforschung im Rahmen meines Doktorats. Mein Vater wuchs in diesem Dorf auf und wir haben nach unserem Wegzug in die Schweiz immer mal wieder sporadisch unsere Verwandten besucht. Die Umgebung und Sitten waren mir somit nicht ganz fremd. In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich den Umgang von ehemalig stark industrialisierten Ortschaften mit aktuellen Krisensituationen wie Brexit, Covid-19 und die steigenden Lebenshaltungskosten. Dabei interessiert mich insbesondere, wie Gemeinschaft, community, heute gelebt wird und wie das Konzept gegebenenfalls überdacht werden muss.
In meinen zahlreichen Gesprächen mit Bewohner:innen konnte ich feststellen, dass die beruflichen Chancen eher beschränkt sind und nicht viel Spielraum zum Aufstieg lassen. Viele arbeiten auch trotz Universitätsabschlüssen in einfachen administrativen Stellen. Eine Berufslehre, wie wir es von der Schweiz kennen, existiert nicht in dem Sinn, weshalb oft trotz fehlender beruflicher Perspektiven ein Tertiärabschluss angestrebt wird. Die Stimmung ist oftmals bedrückt und die Bewohner:innen von Llandyl klagen darüber, dass sich die allgemeine Situation in den letzten Jahren stark verschlechtert habe: Zugleich mit der Abnahme der professionellen wie auch sozialen Lebensqualität im Dorf hat auch das Gemeinschaftsgefühl stark abgenommen, befinden meine Gesprächspartner:innen. Die Nachbarschaft sorge sich nicht mehr auf dieselbe Art und Weise um einander und auf der Strasse würden nicht mehr spontane, angeregte Schwätzchen gehalten, was den spirit des Dorfes ausgemacht habe.
Oft sind in diesem Zusammenhang die Ressentiments gegenüber der britischen Politik und England stark spürbar, was nicht zuletzt auch in der (weit zurückliegenden) kolonialen Vergangenheit von Wales wurzelt. Ein immer wieder wiederkehrendes Narrativ ist, dass Wales als Arbeiternation ausgenutzt und die ansässigen Arbeiter:innen bis heute nicht rechtmässig für ihre Arbeit entlöhnt worden seien. Hiermit ist die industrialisierte Vergangenheit gemeint – insbesondere der Kohleminenbau, Schieferabbau oder die Arbeit in Stahlwerken. Es ist eine starke Abneigung und Misstrauen gegenüber (politischen und wirtschaftlichen) Eliten spürbar. Man ist stolz, walisisch zu sein und dass die eigenen Vorfahren allesamt der working class zugehörig und bestenfalls in der ruhmerfüllten Arbeit des Kohleminenbaus tätig waren.
Die Angst der Forscherin vor dem Clubhaus
Vertrauen spielte während meiner Feldforschung eine wichtige Rolle. So war ich nicht nur auf das Vertrauen meiner Gesprächspartner:innen angewiesen, so dass sie sich mir gegenüber öffnen konnten. Auch musste ich Persönliches preisgeben und einen ‹leap of faith› unternehmen. Wie die Ethnologin Hauser-Schäublin schreibt, geht teilnehmende Beobachtung «unter die Haut und stellt oft eine persönliche, meist emotionelle Herausforderung dar, mit der man umzugehen lernen muss»[ii]. Vor meinem ersten ‹Outing› als Kulturwissenschaftlerin war ich nervös. Zwar fühlte sich dieser Ort auf eine Weise wie Heimat an, doch trotzdem passte ich in etlicher Hinsicht nicht hinein. Während meiner Feldforschung knüpfte ich die meisten Kontakte im Clubhaus des lokalen Rugby- und Fussball-Clubs.
Dies war auch der erste Ort, wo ich mich zu Beginn meines Forschungsaufenthaltes unter die Dorfbewohner:innen wagte. Es handelt sich um einen durch Sport geprägten Raum, der vornehmlich von (älteren) Männern genutzt wird. Ich passte somit weder von meinem Alter noch meinem Geschlecht oder meinen Freizeitinteressen (meine Fussball- und Rugbykenntnisse beschränken sich auf ein Minimum) zum Durchschnittsklientel.
Und dann war ich ja auch noch Outsiderin. Bei vorherigen privaten Besuchen, zum Beispiel jeweils über Weihnachten, wurden wir (insbesondere mein Vater, der hier aufwuchs) teilweise mit Kommentaren konfrontiert, bei denen der Vorwurf mitschwang, dass wir durch den Wegzug in die Schweiz unsere walisische Herkunft verraten hätten (und im übertragenen Sinn die working class, da wir nun aus ihrer Perspektive näher an der Elite waren) – ein Narrativ, mit dem viele Wegzügler:innen konfrontiert sind. Aus diversen Gründen war ich somit mit der für die ethnografische Forschung klassischen ‹Angst vor dem Feld› konfrontiert, die es galt, zu überwinden.[iii]
Eine Strategie, wie ich dieser ‹Angst› entgegenwirken wollte, hört auf den Namen Cookie. Ich entschloss mich, meine Labradorhündin auf meine Feldforschungsreise mitzunehmen. Ich erhoffte mir, dass sie mich bei meinem Unterfangen unterstützen könnte, indem ich mich nicht ganz allein ins (semi-)fremde Gefilde wagen musste. Ich wusste ausserdem, dass Brit:innen im Allgemeinen sehr hundevernarrt sind und die meisten öffentlichen Räume hundefreundlich sind.
Wir betraten also das Clubhaus, in dem sich auf der einen Seite eine Bar befand und auf der anderen Seite Bankreihen, Tische und Stühle reihten. An den Wänden hingen Mannschaftsfotos und Plaketten, die zig Jahre zurückdatiert waren, und eine Wand war durch eine imposante Sammlung von Trikots verdeckt. Die Atmosphäre erweckte nicht, wie man sich das vielleicht für britische Pubs gerne vorstellt, «a warm fuzzy feeling», vielleicht mit Kamin und schönen Holzverzierungen. Das Clubhaus ist eher pragmatisch ausgestattet mit Laminatboden und einer industriell wirkenden Deckenverkleidung, bei der einige Panels fehlen. Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, wer die ‹Alteingesessenen› waren. Sie waren alle an der am besten gelegenen Tischreihe entlang der Fensterfront in Nähe des Notausgangs (für eine schnelle Zigarette zwischendurch) versammelt.
Niemand kannte mich und ich spürte bereits einige neugierige Blicke, als ich mich entschlossen zuerst einmal der Bar näherte, um mir ein Bier zu bestellen. Ich versuchte mich bestmöglich anzupassen und bestellte die Marke, die am meisten getrunken wird. Als ich mich umdrehte und fragte, wie ich nun einen ersten Kontakt mit den Personen im Raum herstellen sollte, wurde ich bereits von einem älteren Herrn mit starkem walisischem Akzent angesprochen: «What a cute pup! What’s its name?» Ob ich nicht auch ein Getränk für den Hund möchte? Er holte meiner Hündin eine Schale Wasser von der Bar, welche er in der Nähe des Tisches, wo er mit seinen Freunden sass, auf den Boden stellte. Ich kam mit den Personen, die um mich herumsassen, ins Gespräch und wie man so schön auf Englisch sagt: «And the rest is history».
Wie sich herausstellte, hatte das Mitführen eines Hundes, der an jeder noch so fremden Person Freude hat, also den netten Nebeneffekt, dass ich den ersten Kontakt nicht selbst initiieren musste. Ich wurde viel eher angesprochen – respektive meine Hündin wurde angesprochen. Ich versuchte Cookie also so oft wie möglich bei meiner Feldforschung dabei zu haben. Gewisse Leute erkannten mich nicht mal ohne sie und andere waren ganz empört, wenn ich ausnahmsweise ohne Cookie auftauchte. Ich war somit zwar zu Beginn die uninteressante Begleiterin meiner Hündin, aber nach Cookies initialen Streicheleinheiten konnte ich oftmals ganz einfach mit den Personen ins Gespräch kommen, die zu ihr bereits einen Kontakt aufgebaut hatten.
Werden Hundebesitzer:innen vielleicht eher als vertrauenswürdig wahrgenommen? Die Sozialanthropologin Karen Lane würde dies bestätigen.[iv] Als Britin, die Feldforschung in Belfast betreibt, war Lane sich der Ambiguität ihrer Präsenz insbesondere bei (republikanischen) öffentlichen Veranstaltungen und Feiern bewusst. Sie erkannte, dass ihr Hund ihre Anwesenheit weniger politisch aufgeladen und authentischer gestaltete. Er gab den Personen einen anderen Fokus, als sich vielleicht zu fragen, was diese Frau mit britischem Akzent nun hier suchte. Nebst dem, dass das Mitführen eines Hundes einen ersten Kontakt herstellt, ist Lane ausserdem der Überzeugung, dass ihr vierbeiniger Begleiter auch teilweise Geschichten hervorrufen konnte, welche andernfalls nicht zur Sprache gekommen wären. Der Hund habe eine entspannende Wirkung auf eine Gesprächssituation, was nicht zuletzt auch diverse Studien belegen, weshalb Hunde auch immer öfter als ‹Co-Pädagogen› in Schulzimmern dem Unterricht beiwohnen.[v] Eine Feststellung, die auch ich machen durfte.
Bitte keine falschen Hoffnungen
Ähnlich wie Lane konnte ich aber auch beobachten, dass Personen mir gegenüber zu Beginn etwas misstrauisch waren. Die erste Frage, mit der ich meist zu Beginn eines Gesprächs konfrontiert wurde, war, woher ich komme und was meine Verbindung zum Dorf war. Ein kurzer Abriss meiner familiären Geschichte – dass mein Vater hier (also im Dorf) aufwuchs und ich ebenfalls hier geboren wurde – legitimierte meine Anwesenheit bereits etwas. Dass ich dann noch erwähnen konnte, dass ich für die Zeit meiner Feldforschung bei meinen Grosseltern wohnte, die in einem Quartier am unteren Ende des Dorfes lebten, machte mich schon fast zu einem Teil der community. Mir wurde somit aufgrund meiner Biografie und meiner (familiären) Verbindung zum Dorf Vertrauen geschenkt.
Spannend war, dass Personen, die ich zu Beginn kennengelernt habe und zu denen ich einen guten Draht fand (und sie auch zu mir), es sich zur Aufgabe machten, mich möglichst vielen Leuten vorzustellen. Nicht zuletzt auch immer betonend, was für ein Projekt ich verfolge, das bei allen immer auf grosses Interesse stoss. Einerseits wurde meine Profession als etwas Exotisches aufgefasst («Dein Job ist es, in einem Pub zu sitzen und mit Leuten zu reden?»), andererseits entfachten oft Diskussionen darüber, wie viel sich in jener Region über die Jahre verändert habe, oft vermischt mit sarkastischen Aussagen zur britischen Politik und zur Wirtschaft. Nicht selten wurde ich mit Erwartungen und Hoffnung konfrontiert, dass mein Forschungsprojekt vielleicht zu einer Besserung der Situation in der Region führen könne: Endlich nahm sich jemand der Problematik an, die für die Bewohner:innen allgegenwärtig, aber für den Rest der Welt scheinbar unsichtbar und nichtig war. Endlich konnte man sagen, was man sagen wollte, und jemand würde es in die Welt hinaustragen. Hier wurde mir einerseits bewusst, welch vielfältige Rollen mir zugeschrieben wurden, aber auch, wie sensibel und vorsichtig ich mich der Thematik annehmen muss.
Oft wurde mir gesagt, wie viel offenherziger die Kultur in Wales früher war. Jedoch sei die Grosszügigkeit und Offenheit politisch und wirtschaftlich ausgenutzt worden, deshalb sei man vorsichtiger geworden. Verwiesen wurde hier wiederum auf die industrielle Vergangenheit von Südwales und die bis heute mehrheitlich vertretene Arbeiterklasse. Mir war es somit wichtig, dass ich nicht als noch eine Repräsentantin der verachteten ‹Elite› wahrgenommen wurde. Ich wollte meinen Gesprächspartner:innen den Raum geben, das zu sagen, was ihnen wichtig ist, und dabei möglichst keine für sie wichtigen Aussagen unterbrechen – nicht wertend, sondern einfach zuhörend – und das, auch wenn das Gespräch vielleicht nicht in eine Richtung gehen sollte, die für die Forschungsfrage relevant ist. Abschweifungen wollte ich zulassen, weil sich vielleicht sonst die Person enttäuscht, gekränkt oder gar im Vertrauen missbraucht gefühlt hätte. Das Bewusstsein für die Sensibilität der Thematik zog sich somit bis in die Ausgestaltung der Interviews. Obwohl ich aus der Perspektive meiner Gesprächspartner:innen aufgrund meiner Zugehörigkeit zu einer Schweizer Universität vielleicht eher als elitär statt als Mitglied einer working class wahrgenommen wurde, konnte ich durch meine Biografie und mein Forschungsvorhaben wie auch durch mein eigenes Verhalten Vertrauen wecken.
Eine Überlegung, die ich mir bereits vor meiner Feldforschung machte, war, inwiefern ich den Personen im Feld ‹etwas zurückgeben› könnte. Ich wollte dem Bedürfnis meiner Gesprächspartner:innen nachkommen und dazu beitragen, dass die prekäre Situation in den deindustrialisierten Regionen in Südwales sichtbar gemacht wird. Ausserdem wollte ich nicht einfach Daten sammeln und dann nach Abschluss meines Projekts wieder verschwinden: «Thank you, bye!»
Eine Idee war das Führen eines Instagram-Kanals, auf dem beispielsweise Zitate aus Interviews in Kombination mit Bildmaterial, aber auch Facts & Figures zur Thematik geteilt werden könnten. Dies erwies sich etwas schwieriger als erwartet. Nebst dem Umstand, dass dies viel Zeit in Anspruch nimmt, braucht es seitens der Forscher:in ziemlichen Mut und etwas Über-den-eigenen-Forscher:innenschatten-springen, um halbfertig gedachte Überlegungen und Interpretationen nach aussen zu kommunizieren. Wir Wissenschaftler:innen sind es eigentlich ja gewöhnt, unsere Sätze mehrfach umzuschreiben und gegenlesen zu lassen, bevor sie publiziert werden. ‹Nacktes› Datenmaterial zu veröffentlichen, braucht somit auch seitens der Forscher:in Vertrauen: Ich musste darauf vertrauen, dass auch die Personen im Feld, wie auch meine Fachkolleg:innen verstehen würden, dass es sich um work in progress handelt.
Das Dokumentieren des Forschungsprozesses entblösst die forschende Person zugunsten der Transparenz und des Zurückgebens ans Feld. Da auch nicht alle meine Gesprächspartner:innen und interessierte Personen am Projekt Instagram nutzen, ist auch angedacht, zu einem späteren Zeitpunkt beispielsweise im community center in einer Informationsveranstaltung über zentrale Erkenntnisse des Projekts zu informieren.
Wichtig war für mich hier jedoch zu erkennen, dass mir zwar Erwartungen und Hoffnungen auf Veränderung entgegengebracht wurden, es jedoch ausserhalb meiner Macht steht, effektiv etwas zu verändern. Wie meine Gesprächspartner:innen kann ich ebenfalls nur hoffen, dass Personen, die Einfluss nehmen können, auf die Thematik (vielleicht Dank meiner Arbeit) aufmerksam werden und so zu einer Verbesserung der Situation beitragen können.
Etliche Faktoren haben dazu beigetragen, dass Personen sich trauten, sich mir gegenüber zu öffnen. So haben der Hund und meine Biografie sicherlich den Zugang erleichtert. Ich würde jedoch behaupten, dass insbesondere die Relevanz meines Forschungsvorhaben für meine Gesprächspartner:innen, sowie das Sich-Zeit-nehmen und geduldiges Zuhören zwei der wichtigsten Faktoren waren. Mein Ziel ist es nun, diese Sensibilität für die Bedürfnisse jener Personen, die alltäglich mit den Herausforderungen einer deindustrialisierten Region zu kämpfen haben und die durch aktuelle Krisen noch stärker getroffen werden, auch für die weiteren Forschungsaufenthalte beizubehalten.
[i] Zur Bewahrung der Anonymität meiner Gesprächspartner:innen handelt es sich um einen fiktionalen Ortsnahmen. [ii] Brigitta Hauser-Schäublin: Teilnehmende Beobachtung. In: Bettina Beer, Anika König: Methoden ethnologischer Feldforschung. Berlin 2020, S. 35-54, hier S. 36. [iii] Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Interaktionsprozeß. Zeitschrift für Volkskunde 77.1 (1981), S. 51-66. [iv] Karen Lane: Canine Connections. Fieldwork with a Dog as Research Assistant. Anthropology in Action, 22(3) (2015), S. 27-38. [v] Siehe zum Beispiel Andrea Beetz: Hunde im Schulalltag. Grundlagen und Praxis. München 2021.
Comentários