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Alltag einer unspektakulären Grenze


Die Grenze zwischen den beiden Basel ist nicht nur unspektakulär, sondern auch weitgehend unsichtbar. Aber wie wichtig ist sie für die Menschen, die dort leben? Die Grenze ist ein selbstverständlicher Teil des täglichen Lebens, gleichzeitig auch ein treuer Begleiter durch das ganze Leben. Selbst wenn eine Grenze kaum aktiv wahrgenommen wird, ist sie im Bewusstsein ihrer Bewohner ständig präsent.



28.01.2022


Der Beitrag erschien erstmals im Bulletin 2012/1. Wir haben Michelle Bachmann gebeten, das Thema aus heutiger Sicht nochmals aufzugreifen.


Die Kantonsgrenze zwischen Basel-Stadt und Baselland wurde seit Erscheinen des Artikels mehrmals neu verhandelt und erhielt für einige Wochen sogar eine unerwartet trennende Wirkung. 2014 fand die Abstimmung über die Einleitung eines Fusionsprozesses statt. Während alle Baselbieter Gemeinden die Vorlage mit zum Teil über 90% Nein-Stimmen klar ablehnten, betrug der Ja-Stimmen-Anteil in Basel-Stadt zwar 54% – wobei auch hier gilt: Begeisterung sieht anders aus. Ein weiteres Beispiel ereignete sich im letzten Jahr, als die Nähe Basels zu kantonalen Grenzen neu ins Bewusstsein gebracht wurde. Während einiger Wochen im Spätherbst 2020 galten unterschiedliche kantonale Regelungen beim Umgang mit der Coronapandemie; je nach Strassenseite durfte das eine Restaurant Gäste empfangen, während das andere seine Türen schliessen musste. Die direkten Anwohnenden dürften die Grenze in dieser Zeit deutlicher wahrgenommen haben als je zuvor. Die Symbolik der Grenze wurde so akzentuiert. Das «Unreflektierte» der Grenze im Alltag, wie es Utz Jeggle bezeichnete, wurde diskursiv neu verhandelt.


 

In Publikationen über die Stadt und die Region wird Basel oft durch seine Grenzlage definiert.[i] Im Alltagsleben hingegen scheinen die Landes- und Kantonsgrenzen beinahe nur symbolische Bedeutung zu haben. Während man für das Überschreiten der Landesgrenze zumindest einen gültigen Ausweis auf sich tragen sollte und die Grenze durch Hinweise oder durch eine Zollstation angezeigt wird, ist die Kantonsgrenze selten sichtbar. Manchmal ist sie durch Schilder an den Strassen gekennzeichnet, abschnittsweise markieren Grenzsteine ihren Verlauf. Meistens bleibt sie aber unsichtbar. Die Basler Kantonsgrenze – Basel-Stadt und Basel-Landschaft sind seit 1833 politisch getrennt – hat aber eine Besonderheit: Sie verläuft teilweise mitten durch städtisches Gebiet und trennt somit auch Wohnquartiere.


Grenzstein zwischen dem Kanton Basel-Landschaft und Frankreich

Diese spezielle Grenzsituation hat mich dazu bewogen, in meiner Masterarbeit[ii] die Grenze zwischen den beiden Kantonen aus kulturwissenschaftlicher Sicht zu untersuchen. Bezüglich der Kantonsgrenze zwischen den beiden Basel interessierte mich ihre Wirkung auf die im Grenzraum lebenden Menschen. In qualitativen Interviews mit Anwohnerinnen und Anwohnern habe ich untersucht, wie sie mit der nahen Grenze umgehen und was ihre Haltung zur und Erfahrungen mit der Grenze sind. In diesem Artikel soll der Fokus auf der Wahrnehmung der Grenze im Alltag liegen. Welche Bedeutung hat die Kantonsgrenze für die Anwohnerinnen und Anwohner? Inwiefern bemerken sie diese überhaupt in ihrem Alltagsleben?


Alltag definiert der Volkskundler Utz Jeggle als etwas Unreflektiertes: «Das Wort konnotiert im alltäglichen Sprachgebrauch problemlose, normale, wiederholbare, sicher auch mühevolle, aber auch darin akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit.»[iii] Aus dieser Definition folgt, dass der Alltag Züge des Selbstverständlichen trägt. In den Interviews mit Grenzanwohnerinnen und -anwohnern habe ich jeweils danach gefragt, wann ihnen die Grenze auffällt und wodurch sie ihnen bewusst wird. Ausserdem habe ich nach alltäglichen Handlungen wie zum Beispiel Arbeit, Einkaufen und Freizeitaktivitäten gefragt. Aus den Antworten konnte ich Erkenntnisse ziehen, wie mit der Grenze umgegangen wird und welche Bedeutung sie im Alltag erhält.


Vergegenwärtigung der Grenze

Den genauen Grenzverlauf haben die wenigsten Gesprächspartnerinnen oder -partner erwähnt. Meistens kannten sie nur den Grenzabschnitt in unmittelbarer Nähe ihres Wohnorts. Eine Erklärung dafür bietet Ingrid Glanzmann. Sie ist ungefähr 85 Jahre alt und wohnt im Kanton Basel-Stadt auf dem Bruderholz. Grundsätzlich ist die Grenze für sie eine Bereicherung, da die geografische Nähe die Bevölkerung zwingt, über den Nachbarkanton nachzudenken: «Es ist alles ein bisschen offener, nicht. Man ist nicht nur so auf sich beschränkt.»[iv] Den Grenzverlauf findet Glanzmann aber eher verwirrend, bei Spaziergängen auf dem Bruderholz wisse sie manchmal gar nicht, in welchem Kanton oder in welcher Gemeinde sie sich nun gerade befinde.


Wahrscheinlich kennen nur wenige den genauen Verlauf der Kantonsgrenze. Im Gegensatz zu anderen politischen Grenzen, bei deren Übertritt man sich ausweisen muss, ist die Kantonsgrenze kein eigentliches Hindernis. Selbst wenn der politische Grenzverlauf unübersichtlich scheint und manchmal gar nicht bekannt ist, sind sich die Grenzanwohnerinnen und -anwohner durchaus bewusst, dass sie an der Grenze zu einem anderen Kanton leben.


Der 40-jährige Holzbildhauer Daniel Germann, der in Oberwil (BL) aufgewachsen ist und heute in einer Wohnung in Birsfelden (BL) lebt, kommt im Gespräch auf den Unterschied zwischen einem tatsächlichen Grenzerlebnis und dem Bewusstsein, an der Grenze zu wohnen, zu sprechen. Auf die Frage, ob es Situationen gebe, in denen er merke, dass er gleich an der Grenze wohnt, antwortet Germann:


«Nein, eigentlich nicht. So vom Erlebnis her nicht unbedingt. Klar, natürlich das Bewusstsein, oder. Weil ich weiss natürlich, die Stadt ist sehr nah. Und diese Richtung [zeigt aus dem Fenster, Ergänzung der Verfasserin] ist eigentlich schon Stadt für mich.»[v]


Germann verleiht den mentalen Grenzen, das heisst auch den Gefühlen, die mit der Grenzsituation verbunden sind, mehr Gewicht als der tatsächlichen politischen Grenze. Aus seiner Situation heraus ist diese Haltung verständlich. Er gehört zu einer Generation, die durch die Teilung der beiden Kantone nicht benachteiligt wurde, da seit den 1970er-Jahren viele grenzüberschreitende Abkommen geschlossen wurden. Dennoch gerät auch bei ihm die Grenze, trotz ihrer Unsichtbarkeit, nicht in Vergessenheit:


«Es ist einfach … ich merke schon, manchmal ist es schon differenziert zwischen Baselland und Basel-Stadt. Aber das ist glaub’ eher ein bisschen emotional. Weil ich halt von … ja, du bist Baselländler, so viele Jahre bist du Baselländler und nicht Städter, oder. Also, diese Grenze ist irgendwo schon gemacht, weil man in dem drin aufwächst.»[vi]


Aufschlussreich ist hier vor allem der letzte Satz, in dem Germann die Bedeutung der Kinder- und Jugendzeit anspricht. Offenbar sind die Strukturen, in denen man aufwächst, auch für die Zugehörigkeitsgefühle im Erwachsenenalter von Bedeutung.


Alltag an der Grenze: Ärgerliches und Ämusantes

Leben an der Grenze manifestiert sich je nach Wohnort unterschiedlich deutlich. Je nachdem können die Erfahrungen im Alltag belustigend sein oder aber verärgern. Meistens handelt es sich um Beobachtungen, die die Grenzanwohnerinnen und -anwohner in ihrem Alltag weder positiv noch negativ beeinflussen und daher mit wenig Emotionen verbunden sind.


Die Grenze wird über alltägliche Dinge wie die unterschiedliche Kehrichtabfuhr wahrgenommen.

Dazu gehören die unterschiedlichen Abfallsysteme, die in beinahe allen Gesprächen erwähnt wurden und fast schon als Klassiker des Grenzwohnens bezeichnet werden können. Die Äusserungen in Bezug auf die Abfallkonzepte der beiden Kantone waren jeweils feststellend und nicht wertend. Sie zeigen aber, dass die Grenze häufig über alltägliche Dinge wie die unterschiedliche Kehrichtabfuhr wahrgenommen wird.


Während die Regeln für die Kehrichtabfuhr alle betreffen, gibt es auch Spezialabkommen zwischen einer Gemeinde und einer Privatperson. Da sein Haus unmittelbar am Grenzbach «Dorenbach» liegt, muss Albert Zwissig für die Verbindung zwischen Strasse (auf Baselbieter Boden) und Garage (auf städtischem Boden) jährlich einen sogenannten Brückenzoll bezahlen:


«Dann gibt es manchmal so Mist wie den Brückenzoll noch für das Dorenbächlein, dieses Brücklein wo man in die Garage fährt. Da muss man irgendwie an die Gemeinde Binningen 100 Franken zahlen oder so etwas [lacht, Ergänzung der Verfasserin]. Dafür macht dann Binningen die Bewirtschaftung von den Sträuchern am Bächlein.»[vii]


Dieses Beispiel zeigt, dass auch kleine Details zwischen den Kantonen beziehungsweise zwischen einer Baselbieter Gemeinde und dem Kanton Basel-Stadt geregelt werden müssen. Zwissig verärgert die finanzielle Beeinträchtigung, er nennt die Abgabe einen «Mist», gleichzeitig amüsiert es ihn, dass sich die Gemeinde Binningen um die Sträucher kümmern muss.


Kinderspiel an und mit der Grenze

Für Kinder ist Spielen eine zentrale Tätigkeit in ihrem Alltag. Über das Spiel lernen sie selbständig Ideen umzusetzen. Zusätzlich werden beim Spielen mit anderen Kindern Spielregeln aufgestellt, welche Werte und Normen vermitteln. Die Wohnsituation direkt an der Grenze bietet die Möglichkeit, diese in das Spiel einzubeziehen. Zwei meiner Gesprächspartnerinnen haben bereits als Kind an ihrem heutigen Wohnort gelebt und auf je unterschiedliche Art und Weise mit der Grenze gespielt.


Karin Claus integrierte die Grenze in das Spielen mit Nachbarskindern. Dabei bauten sie die Grenze in ihr Spiel ein und stritten auch darum, wo die Grenze nun genau verlaufen würde. Während Claus in ihrer Kindheit sozusagen um territoriale Ansprüche des Grenzraums kämpfte, erhielt die Grenze für die 71-jährige Anna Becker die Funktion eines Übergangsritus. Ihre Eltern erklärten ihr den Verlauf der Grenze, worauf sie ein Spiel aus dem Grenzübertritt machte:


«Mir ist schon immer gesagt worden, die Grenze ist die Birs. Und immer wenn ich über die Birs bin, habe ich gedacht ‹Jetzt bin ich in Basel, jetzt bin ich in Baselland!›. Das ist für mich schon noch ein Erlebnis, aber nicht irgendwie, dass ich das sonst gefühlsmässig irgendwie erlebt hätte, sondern eher so ‹Ha, jetzt bin ich in Basel-Stadt und jetzt bin ich in Baselland!›. Einfach so, wenn man über die Birs ist.»[viii]


Nebst dem Fluss Birs waren es auch die Sprachunterschiede, die Becker als Kind die Grenzsituation verdeutlichten. Da ihr Vater Städter war, ihre Mutter aber aus Muttenz stammte, sprach sie als Kind zwei Dialekte:


«Ich habe in Muttenz anders gesprochen, als wenn ich in Basel war. Und als ich aber nach Muttenz in die Schule bin, da ‹hei alli Baselbieteret› [sie ahmt den Muttenzer Dialekt nach, Ergänzung der Verfasserin]. Und wenn ich hier ‹Basleret› hätte, das wäre komisch gewesen. Dann habe ich halt auch ‹Baselbieteret›. Das waren für mich schon auch die Grenzgefühle von Baselland und Basel-Stadt: die Dialekte.»[ix]


Die Überquerung der Kantonsgrenze war für Becker in ihrer Kindheit eine bewusste Tätigkeit, bei der sie über einen Fluss schreiten und ihre Sprache ändern musste. Ihr Gedankenspiel weist auf eine Form von Übergangsriten hin, wie der Ethnologe Arnold van Gennep sie beschrieben hat. Van Gennep zeigte auf, dass ein «Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet»[x] wird. Dabei ist das Ziel, «das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte hin­überzuführen»[xi]. Beim Gang über die Brücke gelangte Becker nicht nur in einen anderen Kanton, sondern wechselte auch von einer Sprache mit ihren Regeln und feinen Unterschieden zu einer anderen.


Schlussfolgerungen

Die Analyse der Interviews zeigt, dass das Grenzbewusstsein und die Grenzwahrnehmung voneinander unterschieden werden müssen. Das Bewusstsein der Grenzsituation bleibt permanent im Hinterkopf. Die Grenze wird im Alltag aber selten wirklich wahrgenommen, da sie keine trennende Grenze ist, sie nicht zwei völlig unterschiedliche Systeme trennt und problemlos überschritten werden kann. Dabei wird nicht nur die alltägliche Handlung zu etwas Unhinterfragtem. Auch die Grenze wird in diesem Zusammenhang zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswelt der Grenzanwohnerinnen und -anwohner. Die Selbstverständlichkeit der Grenze hat allerdings einen doppelten Sinn: Sie gehört derart selbstverständlich zum Alltag, dass man sie vergisst. Zugleich ist die Grenze aber eine selbstverständliche Begleiterin im Leben der Grenzanwohnerinnen und

-anwohner.


 

[i] Vgl. z. B. Felder, Pierre/Gschwind, Eva: Grenzfall Basel-Stadt. Politik im Stadtkanton. Basel 2009, S. 18. [ii] In diesem Artikel gehe ich aus Platzgründen nur auf einen Aspekt meiner Untersuchung ein. In der Masterarbeit legte ich den Schwerpunkt auf die Frage, inwiefern die Kantonsgrenze als Ausgangspunkt für Identitätskonstruktionen dient. Vgl. Bachmann, Michelle: «Aber sonst ist das eine der friedlichsten Grenzen auf dieser Welt». Die Kantonsgrenze zwischen Basel-Stadt und Basel-Landschaft aus der Perspektive der Anwohnerinnen und Anwohner. Basel 2011. (Masterarbeit am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie, Universität Basel). [iii] Jeggle, Utz: Alltag. In: Bausinger, Hermann et al.: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 19994, S. 81. [iv] Gespräch mit I. Glanzmann, S. 21. Damit der Datenschutz gewährleistet ist, sind die Namen der Interviewpartnerinnen und -partner alle anonymisiert. Alle hier zitierten Interviews wurden von der Autorin zwischen Juli und September 2010 geführt. [v] Gespräch mit D. Germann, S. 3. [vi] Ebd., S. 10. [vii] Gespräch mit A. Zwissig, S. 3f. [viii] Gespräch mit A. Becker, S. 6f. [ix] Ebd., S. 7f. [x] Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt, New York 2005 [franz. Erstausgabe 1909], S. 15. [xi] Ebd.

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