«Das Chalet in den Bergen ist immer mehr als ein Holzhaus». Der lapidar anmutende Satz aus dem Einführungstext der Ausstellung fasst ihr Programm treffend zusammen. Denn vor allem diesem «Mehr», seinen Wurzeln und Wirkungen will die Präsentation in der Nationalbibliothek nachgehen. Sie macht dies auf vergnügliche Art und entfaltet ein dicht und perspektivenreich gezeichnetes Tableau, das geradezu exemplarisch ist für andere schweizerische Symbole und Traditionen.
30.5.2023
«Neulich im Museum» ist eine Kolumne von «das bulletin. Für Alltag und Populäres». Sie will den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Institution Museum und das populäre Medium Ausstellung schärfen und dem nach wie vor vernachlässigten Genre der Ausstellungskritik einen Platz geben. Dazu erscheinen in loser Folge knappe Berichte von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands, sichtbaren und weniger sichtbaren, solchen mit deutlicherem Bezug zur Kulturwissenschaft des Alltags und auch solchen, bei denen sich dieser nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.
Die Schweizerische Nationalbibliothek im neuerdings stärker vernetzten und programmatisch in Entwicklung begriffenen Berner Museumsquartier ist weder qua Auftrag noch aufgrund ihrer räumlichen Möglichkeiten ein klassisches Ausstellungshaus. Dennoch kommt Ausstellungen schon länger und in den letzten Jahren verstärkt eine wichtige Rolle in der Vermittlungsarbeit des Hauses zu. Die Präsentationen im bescheiden dimensionierten Ausstellungsraum drehen sich längst nicht nur um Bücher und Literatur. Die für das Gelbe Haus in Flims erarbeitete Ausstellung «Mythos Chalet» nützt die Nationalbibliothek für eine gelungene Übernahme, die zugleich Einblick in eigene Bestände bietet.
Geranien und Ueli Maurers Haus ohne Dach
Die Übernahme aus dem für seine innovativen Ausstellungen bekannten Bündner Lokalmuseum bringt Frische in die ansonsten stillen und dem «Neuen Bauen» verpflichteten kühlen Räume der Nationalbibliothek. Nun begrüssen schon am Eingang rote Geranien und weisen als farbenfrohe Wandgestaltung in Wort und Bild den Weg – sie lassen keinen Zweifel, dass hier nicht nur erhabene Denkmäler des nationalen Kulturerbes ausgeleuchtet werden sollen.
Entsprechend popkulturell angelegt ist auch der Einstieg. Die Ausstellung beginnt mit allerlei Souvenirs in Chaletgestalt und breitet dann gleich ein noch eher irritierendes als erklärendes Inventar aus. Es reicht von Whams in Saas-Fee gedrehtem Last Christmas und dem Filmklassiker Beresina über die schicksalhaften Gstaader Herbergen Roman Polanskis und Axel Springers bis zu dem nur noch schräg anmutenden Hausmodell, mit dem Bundesrat Ueli Maurer 2014 im Abstimmungskampf um die Beschaffung des Kampfjets «Gripen» durch das Land zog: seine Schweiz als Chalet ohne Dach in Gefahr. Auch Hinweise auf die Rolle des Chalets als Immobilie und Image in den aktuellen Sanktionen gegen die russische Oligarchie und als Nobelquarantäne während der Covid-Pandemie fehlen nicht. Ein bunter Einstieg, der aber keine Zweifel lässt: ganz harmlos ist das alles nicht, was da hinter den Fassaden und auch in den ideologischen Fundamenten steckt.
Die federführend vom erfahrenen Kurator Beat Gugger konzipierte Ausstellung beschränkt sich nicht aufs Zeigen, sondern praktiziert in einer schlicht, aber sinnfällig gestalteten Architektur das, wofür das Medium Ausstellung prädestiniert ist – nämlich ästhetisch erfahrbare Kontexte zu schaffen und so Raum für Antworten auf Fragen zu bieten, die uns der Gegenstand stellt. Dementsprechend zeigt sie, wie «Ein Briefroman als Tourismusreklame» (nämlich Jean-Jaques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse von 1761) zu wirken begann und ein in der Folge gut bewirtschaftetes Fundament schuf.
Besonders eindrucksvoll erweist sich hier der Abschnitt zur detailreich ausgeleuchteten Chaletindustrie des 19. Jahrhunderts und zur Rolle der Weltausstellungen. Schon 1851 in London war die Schweiz mit Chalets präsent und begründete so eine wirkmächtige Tradition, die in Wien 1873 und Paris 1900 mit seinem «Village Suisse» perfektioniert worden ist – mit der Landesausstellung in Genf 1896 als einheimischem Höhepunkt rekonstruktiver nationaler Imagologie. Eine Weltkarte der Verbreitung von Wort und Sache des «Schweizer Hauses» schlechthin unterstreicht den globalen Erfolg dieses Exportartikels.
Vorlagensammlungen – Wissenszirkulation zwischen Bauforschung und Chaletindustrie
Wie das funktioniert hat, erschliesst sich aus der Zirkulation, die in der Verbindung der grossen Themen der Ausstellung erkennbar wird. Da sind zum einen die frühen, als Vorlagensammlungen fungierenden Werke der hausforschenden Ingenieure und Volkskundler wie Ernst Gladbach (1882/86) und da sind zum anderen die Chaletfabriken in Kriens, Ilanz oder Chur, wo man vom kleinen Jagdhaus bis zur Villa für einen Hohenzollern-Prinzen die Nachfrage nach dem «Laubsägestil» modular und mit industriell vorgefertigten Bauteilen bedienen konnte. Christine Burckhardt-Seebass hat auf diese Zusammenhänge und die Paradoxien industriell produzierter Tradition bereits vor bald 25 Jahren in einem klugen Beitrag «Gedanken zur Dauerhaftigkeit des Schweizer Chalets» (1999) hingewiesen.
Die eigenen Bestände der Nationalbibliothek werden vor allem an zwei Stellen eingespielt. Zum einen sind Reproduktionen von Chaletmotiven in der Tourismuswerbung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Plakatsammlung zu sehen. Zum anderen werden in einem Kabinett Gemälde von Schweizer «Kleinmeistern» präsentiert. Letztere bilden eine gelungene Klammer zu den Souvenirs am Beginn der Ausstellung, erfüllten doch die Gemälde mit Ansichten aus dem Berner Oberland und anderen früh bereisten Gebieten der Schweizer Alpen eben diese Funktion, nämlich Andenken an Reisen zu den seinerzeit in Kunst und Literatur vielbesungenen Orten eines alpinen Arkadiens zu sein.
Doch die Ausstellung legt nicht nur Pfade in die Geschichte, sondern fragt auch nach der «Dauerhaftigkeit» (des Nachwirkens und der Anschlussfähigkeit) des utopischen Charakters dieses Bautyps. In einer klein, aber fein gemachten Zusammenstellung versammelt sie dann auch ein paar moderne ikonische Neuinterpretationen wie Adolf Loos’ Haus Khuner am Semmering aus den 1920er Jahren oder Carlo Mollinos architektonisches Readymade eines historischen Chaletbaus aus den 1960er Jahren im Aostatal. Und sie zeigt Beispiele der gegenwärtigen Reflexion auf diese Tradition wie etwa die Herberge in Hergiswald von Gion Caminada oder das als Betonnegativ eines Blockbaus errichtete Rigufi Lieptgas von Georg Nickisch und Selina Walder in Flims. Weit umfangreicher ist freilich die Medienstation bestückt, die weniger die baukulturelle als vielmehr die alltägliche und kommerzielle Robustheit des Chalets dokumentiert – ein bunter und mitunter befremdlicher Bilderbogen vom bescheidenen Ferienhaus über städtische Fondue- und andere Hütten bis zu neuerbauten Luxusimmobilien und Investorenhotels.
Wer dagegen noch mehr gute Beispiele nachhaltigen Bauens in den Alpen kennenlernen will, hat dazu wenige hundert Meter weiter Gelegenheit: Im Garten des Museumsquartiers ist aktuell die vom Schweizerischen Bundesamt für Raumentwicklung ARE und dem Alpinen Museum der Schweiz zusammengestellte Wanderausstellung Nachhaltige Architektur von Ljubljana bis Nizza – Constructive Alps 2022 zu sehen. Sie zeigt die nominierten und ausgezeichneten Projekte der sechsten Auflage des seit 2011 von der Alpenkonvention vergebenen Architekturpreises.
Das Chalet – Hütte und Bunker fürs Kapitalozän?
Gerade hier, wo es auch beim Chaletbau um Haltungen zu Gesellschaft und Umwelt geht, hätte man sich gewünscht, den einen oder anderen Ansatz auch analytisch oder theoretisch noch etwas vertieft zu bekommen. Mit dem Chaletboom in und nach der Pandemie und der Liebe der Oligarchie zum Engadin und Berner Oberland, aber auch mit der Transformation von Orten wie Andermatt und dem Kampf um Wohnraum in den durch «Zweitwohnende» leergekauften Feriengebieten sind wichtige Spuren gelegt. Ob nicht die neuen Chalets in den Bergen eine Art landgebundenes Pendant zu den von Grégory Salle in Superyachten: Luxus und Stille im Kapitalozän beschriebenen schwimmenden Autonomieversprechen bilden?
Schade ist, dass selbst dort, wo es wohl möglich gewesen wäre, auf den Einsatz von Originalen verzichtet worden ist (etwa bei den Vorlagensammlungen und Katalogen der Chaletindustrie). Gerade wenn eine Ausstellung zusätzlich im Netz derart ausführlich abgebildet und begleitet wird (siehe Linksammlung unten), würde man sich beim Besuch einer physischen Ausstellung an einem Ort wie der Nationalbibliothek, wo es bestimmt nicht an der konservatorischen Kompetenz zum Zeigen von Büchern und Grafiken mangelt, zumindest das eine oder andere Original erwarten. Solchen begegnet man nur in der etwas lieblos angeschlossenen Präsentation der «Kleinmeister».
Dennoch beeindruckt, was hier auf kleinem Raum alles dokumentiert und erzählt werden kann. Selbst für eine interaktive Station, an der nicht nur Kinder eigene Bilder und Gedanken zum Chalet entfalten können, war noch Platz. Eine zurückhaltende, aber präzise Gestaltung der Displays trägt dazu bei. Sie ist «natürlich» aus Holz und setzt den Widerspruch des Themas durch die Verwendung industriell verleimter Platten, auf die dezent ein paar Laubsägemotive aufgemalt sind, auch bildhaft-materiell um.
«Chalet. Sehnsucht, Kitsch und Baukultur» bis 30. Juni 2023 in der Schweizerischen Nationalbibliothek, Hallwylstrasse 15, 3005 Bern. Montag bis Freitag, 9–18 Uhr, Eintritt frei.
Chalets auf allen Bildern: die Schweizer Kleinmeister zum Thema «Chalet»
Podcast zur Ausstellung im Gegensprecher
Wanderausstellung Constructive Alps bis 28. Mai 2023 im Museumsquartier Bern, danach in Poschiavo, Appenzell und an weiteren Orten.
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