Seit der Abkehr von der damaligen oder alten Volkskunde beschäftigt das universitäre Fach, das je nach Standort Kulturanthropologie, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft oder Populäre Kulturen heisst, eine Namensdiskussion. Bernhard Tschofens persönlicher und historischer Exkurs erörtert die jeweiligen Dispositive.
28.04.2022
Der Beitrag von Bernhard Tschofen erschien erstmals im Bulletin 2015/2. Wir haben ihn gebeten, sich aus heutiger Sicht nochmals auf den Inhalt des Beitrags zu beziehen.
Ein Wiederabdruck eines älteren Beitrags ist immer eine zwiespältige Sache – vor allem, wenn es weniger um Fachliches als um wissenschaftspolitische Positionen geht. Manches an diesem Text hat sich bekanntlich überholt: Aus der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde ist eine für Empirische Kulturwissenschaft geworden, ein weitreichender Entschluss, mit dem aber bewusst keine Empfehlung oder gar Verpflichtung zur Umbenennung von Instituten und anderen Einrichtungen verbunden ist. Anderswo ist die Diskussion noch zu führen, und es kann bestimmt nicht schaden, in diesem Zusammenhang an besondere Qualitäten zu erinnern, auf die die Noch-SGV auch «post Volkskunde» nicht verzichten sollte.
Über den Platz zwischen Schweizer Volkskunde und Allerweltskulturwissenschaft
Wenn man am Bahnhof von Zernez auf einen der roten Züge der Rhätischen Bahn wartet, schaut man jenseits des Bahnsteigs auf ein Gebäude, das volkskundlich Sozialisierte wohl Anderes assoziieren lässt als die Mehrzahl der hier verkehrenden Pendler*innen und Touristen*innen. Es trägt – friedlich vereint und der Gestaltung nach synonym zu lesen – die beiden Akronyme EKW und EE, und erinnert so gleichzeitig an zwei der wichtigsten Fachbezeichnungen, mit denen in den letzten Jahrzehnten Neuorientierungen der volkskundlichen Kulturwissenschaft durchaus kontrovers diskutiert worden sind.
Zernezer Impressionen und biografische Imprägnierungen
Ich gestehe, dass ich darauf sofort ‹angesprungen› bin, wie man salopp sagen könnte. Fand sich nämlich das Kürzel «EKW/EE» – noch häufiger als: «EKW als EE» – in den letzten Jahren doch mehr als nur einmal in meinen Vorlesungsmanuskripten. Es bildete gewissermassen die variierende Explikation zur Diskussion der Entwicklungslinien einer im Hintergrund stets präsenten «Volkskunde». Und ich gestehe ebenso offenherzig, dass ich in der Namensvielfalt unseres Faches[i] im Gegensatz zu anderen kein sonderlich grosses Problem sehe. Im Gegenteil, die Arbeit mit den verschiedenen Bezeichnungen dient mir gerade auch in der Lehre zur Schärfung der spezifischen Heterogenität des disziplinären Raums, in dem wir uns bewegen. Vielleicht liegt das an meiner eigenen, besonders wechselvollen Namensgeschichte. Und ich erzähle diese gerne im Zeitraffer Studierenden oder auch in interdisziplinären Arbeitszusammenhängen, um damit auf ein meines Erachtens produktives Spannungsverhältnis von Veränderung und Kontinuität zu verweisen.
Mein Studium aufgenommen habe ich 1984 an einem Institut für Volkskunde (an der Universität Innsbruck), dessen Studiengänge (jedenfalls -pläne) aber damals bereits österreichweit den lateinischen Zusatz einer Ethnologia Europaea trugen. Ich wechselte bald nach Tübingen und damit in die Empirische Kulturwissenschaft, in der ich 1992 auch meinen ersten Abschluss erwarb, um damit wiederum in Wien zunächst im Österreichischen Museum für Volkskunde, ab 1995 dann im Institut für Volkskunde der Universität Wien zu arbeiten, das sich in jenen Jahren zusehends öffnete und folgerichtig 2000 in ein Institut für Europäische Ethnologie umbenannte. Das Promotionsfach meiner 1999 in Tübingen eingereichten Dissertation lautete dagegen auf Empirische Kulturwissenschaft, die Wiener venia von 2002 indes auf Europäische Ethnologie. Sie machte mich 2004 zum Professor für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen und 2013 zum Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich. Zugegeben, letztere Bezeichnung überzeugte mich anfangs weniger, weil sie eher auf ein Feld denn auf ein Fach zielt, aber seit das Institut 2014 mit dem Ethnologischen Seminar und dem Völkerkundemuseum der Universität Zürich zum Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft fusionierte, befinde ich mich in der neuen Namensvielfalt sehr wohl – zumal die Unschärfe der Zuordnung Populäre Kulturen = Empirische Kulturwissenschaft interessante (Interpretations-)Spielräume eröffnet.
Das ist eine lange Reihe von Namen, hinter denen sich auch differenzierte Orientierungen und vor allem die Geschichtlichkeit der Entwicklung unseres Fachverständnisses in den vergangenen Jahrzehnten verbergen. Dennoch bin ich selbstredend in diesen nunmehr gut dreissig Jahren auf meine Art auch immer Volkskundler geblieben. Nicht weil ich diese Bezeichnung für akademisch tragfähig halten würde, sondern weil sie als Verweis auf eine kognitive Herkunft fungiert und zugleich auf gemeinsame Organisationsformen zu verweisen hilft. Die Kontinuität in der Fachzugehörigkeit gerade meiner Generation liegt in der selbstverständlichen Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde respektive in der Schweizerischen Gesellschaft und oder im Verein für Volkskunde, in deren mehr oder weniger selbstverständlich unter Volkskunde firmierenden Organen, bei deren Kongressen und Tagungen auch die Verständigung über adäquate Fachterminologien und zukunftsfähige -profile ihren angestammten akademischen Ort hat.
Es mag zunächst paradox klingen: Nie möchte ich ein Fach lehren und vertreten müssen, das einfach nur Volkskunde heisst, aber ebenso wenig würde ich es für klug halten, diese Bezeichnung zugunsten der in der Benennung unserer Institute und Studiengänge Sinn machenden Terminologien aufzugeben. Ich sehe dafür vor allem zwei Argumente sprechen, ein epistemologisches und ein gesellschaftliches – oder auch schlicht: eine innere und eine äussere Motivation.
Die Herkunft unseres Wissens: Eine besondere Kulturwissenschaft
Lehrt man heute an den schweizerischen Fachstandorten Basel und Zürich Kulturanthropologie oder Populäre Kulturen, so geschieht dies im Rahmen von Instituten, die bewusst andere Namen tragen als die von ihnen angebotenen Studiengänge: Sowohl das Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie als auch das ISEK – Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft – demonstriert damit, dass die hier vertretenen Kulturfächer keine beliebigen Querschnittangebote sind, sondern in einer bestimmten epistemischen Tradition stehen und zugleich ihren Platz in der internationalen Wissenschaftslandschaft der Humanities haben. Wie an den meisten deutschsprachigen Standorten des Faches auch, bilden die beiden Institute keine Allerweltskulturwissenschaftler*innen aus, deren Interessen allein thematische Kohärenz besitzen, die aber darüber hinaus keinen gemeinsamen kognitiven Apparat der Konzepte, Zugangsweisen und vor allem der Methoden und ihrer Reflexion entwickeln.
Die Lehre an unseren Instituten ist vielmehr geprägt von einer grundsätzlichen Orientierung, die so nur im Modernisierungsprozess der Volkskunde gewonnen werden konnte und die zwar mannigfache Schnittmengen mit anderen kulturwissenschaftlichen und anthropologischen Traditionen aufweist, dabei in ihren Frage- und Argumentationsweisen aber ihren eigenen Referenzrahmen besitzt. Zentral dafür ist mit Sicherheit ein im Gegensatz zu den älteren Kulturwissenschaften mit ihrer vornehmlichen Ausrichtung an Monumenta und ästhetischen Zeugnissen und auch im Gegensatz zu den oftmals wenig empirisch ausgerichteten jüngeren Kulturwissenschaften vornehmlich philologischer Prägung traditionell breites Konzept von Kultur, das die Entwicklung der Volkskunde zur alltagsweltlich ausgerichteten Kulturwissenschaft bereits avant la lettre vorbereitet hat.
Das eigentliche Proprium des Faches scheint aber weniger im Zuschnitt seiner zentralen Kategorien als vielmehr im Umgang mit den damit verbundenen Wissensbeständen und Epistemiken zu liegen. Anders gesagt: Die volkskundliche Tradition ist nicht nur eine nicht abzustreifende Hypothek, als die sie oft dargestellt worden ist, sondern birgt neben dem bereits historisch verschiedene Dimensionen des Kulturellen integrierenden weiten Kulturbegriff auch noch andere Potentiale. Dazu gehören selbstredend die auf verschiedenen Ebenen wechselseitig fruchtbar zu machenden Beziehungen zwischen historischem Denken und ethnographischem Arbeiten, dazu gehören aber vielleicht in allererster Reihe auch die historisch erlernte Sensibilität für Status und Funktion disziplinären Wissens und die damit verbundene genuine Reflexivität in Bezug auf die forschende und angewandte Praxis.[ii]
Andere Kulturwissenschaften teilen das an der alltagskulturellen Orientierung des Faches liegende mehrfache Verwobensein mit ihrem Gegenstand zumindest nicht im selben Ausmass. Seine Reflexion und – in der Lehre durchaus auch im didaktischen Sinne – seine historische Begründung sind für das Fach ein einmaliger Atout für eine Kulturforschung unter den Bedingungen gegenwärtiger Komplexität. Auf die Vermittlung der dafür befähigenden Kenntnisse der Kontexte und Dynamiken auf dem wenig geradlinigen Weg von der namensgebenden frühen Volkskunde zum heutigen, nach einer Formulierung Gottfried Korffs sprichwörtlichen «Vielnamenfach»[iii] zu verzichten, wäre sträflich.
Was als volkskundlich gilt: Public Science als relationales Feld
Es ist nicht allein der bereits früh – wenngleich oft nicht explizit und theoretisch reflektiert – Materielles und Immaterielles, Struktur und Praxis verbindende Kulturbegriff der volkskundlichen Arbeitstradition, der diese uns oftmals zu Recht hoffnungslos antiquiert erscheinende alte Volkskunde zugleich äusserst modern gemacht hat. Ein weiteres Merkmal ihrer, wenn man so sagen will, angestammten Avanciertheit liegt in der oft als Defizit (zumindest der akademischen Reputation) wahrgenommenen sozialen Situierung.[iv] Aus einer Reihe von Untersuchungen zur Institutionalisierung des Faches wissen wir heute, dass die spät erfolgte und oft auch wenig abgesicherte Etablierung an den Universitäten nicht nur als Zeichen der Schwäche zu werten ist, sondern – so problematisch die damit verbundenen soziopolitischen Intentionen auch gewesen sein mögen – lange Zeit auch die Flexibilität des Faches und seine damit verbundene öffentliche Wirkmächtigkeit ermöglicht hat.
Es wäre angesichts der Möglichkeiten, die eine volkskundlich informierte Öffentlichkeit dem Fach zu bieten hat, vermessen, die letzten – auch semantischen – Brücken zwischen Universitätswissenschaft und Öffentlichkeit einzureissen.
Unser Blick auf eine solchermassen öffentliche Wissenschaft ist heute ein bewusst anderer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das hat vor allem mit der Skepsis der veränderten Wissensgesellschaft der Gegenwart gegenüber den Sphären exklusiver Wissensproduktion zu tun. Die Entgrenzung des Wissens durch die gesellschaftlichen Dynamiken der letzten Jahrzehnte und nicht weniger durch die Möglichkeiten der technisch-medialen Erweiterungen der Modi der Herstellung, Distribution und Verhandlung von Wissen haben auch unseren Blick auf die ausserakademische Öffentlichkeit und die Teilhabe der sogenannten Laien verändert. Das betrifft nicht zuletzt die mit dem Fach verbundenen Museen und andere Institutionen der Praxis, in denen die überlieferten Hierarchien zusehends zugunsten partizipativer Modelle aufgebrochen werden und vor allem die Eindimensionalität des Wissenstransfers als Top-down-Prozess längst als überwunden gelten kann.
Unser Fach hat das in dieser Spezifik als öffentliche Wissenschaft liegende Potential bislang nicht ausreichend zu mobilisieren verstanden, zu sehr steht dabei oft immer noch der akademische Dünkel gegenüber den Ungleichzeitigkeiten in den Begriffen und Wertorientierungen der interessierten Öffentlichkeit im Weg. Aber eine solche trading zone der Wissensordnungen ist gerade dann produktiv, wenn sie zwar auf nichtdichotome Beziehungen setzt, aber Akteure mit unterschiedlichen Hintergründen und Expertisen zu verbinden weiss.[v] Es wäre angesichts der Möglichkeiten, die eine volkskundlich informierte Öffentlichkeit dem Fach zu bieten hat, vermessen, die letzten – auch semantischen – Brücken zwischen Universitätswissenschaft und Öffentlichkeit einzureissen. Im Gegenteil: Gerade die in der Interaktion liegende Expertise könnte dem Fach neue Formen des Forschens und Sammelns erschliessen helfen. Sie werden heute selbstverständlich nicht unverändert an die Laienaktivitäten der älteren Volkskunde anknüpfen, aber sie könnten sowohl die spezifische Stellung des volkskundlichen Wissens in der Öffentlichkeit als auch dessen besondere Beziehung zum alltagsweltlichen Erleben zu einem Markenzeichen engagierter Wissenschaft machen.
Und auch wenn sich der Fall der Zernezer Namensvielfalt bei näherem Hinsehen als Täuschung erwiesen hat (ein als verbindender Kreis – ein Turbinenrad? – gedeutetes O ist nämlich in der volkskundlichen Fixierung wohl unbewusst übersehen worden), ergibt die Beobachtung vielleicht doch ein schönes Sinnbild: Die Engadiner Kraftwerke alias Ouvras Electricas d’Engiadina haben mit ihrer der Mehrsprachigkeit geschuldeten Vielfalt auch kein Problem – solange man weiss, wofür die unterschiedlichen Bezeichnungen und vor allem das Unternehmen selbst stehen.
[i] Erhellend nicht nur im Sinne der Debatte, sondern auch in Bezug auf die Notwendigkeit wiederkehrender Vergewisserungen ist v.a. Bendix, Regina/Eggeling, Tatjana (Hg.): Namen und was sie bedeuten. Zur Namensdebatte im Fach Volkskunde (= Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen, 19). Göttingen 2004.
[ii] Zum historischen Verständnis dieser Entwicklung vgl. v.a. Moser, Johannes/Götz, Irene/Ege, Moritz (Hg.): Zur Situation der Volkskunde 1945–1970: Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, 43). München 2015.
[iii] Korff, Gottfried: «Namenswechsel als Paradigmenwechsel? Die Umbenennung des Faches Volkskunde an deutschen Universitäten als Versuch einer ‹Entnationalisierung›». In: Weigel, Sigrid/Erdle, Birgit R. (Hg.): Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Zürich 1996, S. 403–434.
[iv] Vgl. dazu besonders Bürkert, Karin: Fastnacht erforschen. Zur Herstellung und Vermittlung von Kulturwissen (1961–1969). (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 117). Tübingen 2015, zugl. Göttingen Univ. Diss., 2014.
[v] Vgl. Gorman, Michael E. (ed.): Trading Zones and Interactional Expertise: Creating New Kinds of Collaboration. Cambridge: Mass. 2011.
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