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Versicherungen – das Geschäft des «Was wäre, wenn …?»

Die Zukunftsnarrative, mit denen Versicherungsunternehmen ihre Produkte bewerben, folgen in der Regel der gleichen Logik: Es werden Szenarien gezeichnet, die Risiken akzentuieren und gleichsam Abhilfe dagegen versprechen. Die Praktiken des Verunsicherns gehen dabei Hand in Hand mit denen des Versicherns, sie ergänzen sich gegenseitig. Vertrauenssemantiken spielen in diesem Wechselspiel eine entscheidende Rolle.



15.9.23


Versicherungen sind aus unserem modernen Leben nicht mehr wegzudenken und wir alle werden im Laufe unseres Lebens auf ihren Kompensationsschutz vertrauen. Als zentrale Vorsorgeinstrumente richtet sich ihr Blick nach vorn, auf das was kommt, denn bei Versicherungen geht es immer um die Zukunft – und um viel Geld versteht sich.

Zwar belegen Vertreter:innen der Versicherungszunft alljährlich die hintersten Plätze in einschlägigen Vertrauensstatistiken [i] – dies hält die meisten von uns jedoch nicht davon ab, Jahr für Jahr nicht unerhebliche Summen in «das gute Gefühl, abgesichert zu sein» zu investieren. In diesem Text möchte ich hier ansetzen und zentrale Logiken von Versicherungsansprachen näher beleuchten. Besondere Bedeutung erlangen dabei Imaginationen eines guten künftigen Lebens sowie Erzählmuster, die potenzielle Zukunftsszenarien ausmalen und zur Handlungsaktivierung (dem Versicherungserwerb) auffordern.[ii]


★ Finden Sie die Fehler: Wer genau aufpasst, stösst mitunter auf Ungenauigkeiten in den Verkaufsansprachen von Versicherungsunternehmen, die gerne mal fünf gerade sein lassen. Die Videos dieses Textes enthalten zwei Stellen, die misstrauisch betrachtet werden sollten. Die Auflösung folgt in den Endnoten.


Lassen Sie sich bitte nicht täuschen, anders als der Name suggeriert, handelt es sich bei einem Versicherungsprodukt um nichts Gegenständliches, sondern um ein Versprechen. Gegen potenzielle Risiken künftiger Entwicklungen versprechen Axa, Allianz & Co. finanzielle Vorsorgeleistungen. Diese Leistungsversprechen werden von Kund:innen finanziell erworben, wodurch eine Bindung auf Zeit entsteht, geschmiedet durch einen Vertrauensakt. Solch ein Vertrauensverhältnis ist bei Finanzgeschäften zentral, handelt es sich doch um fiktionale, nicht-greifbare Geschäftsmodelle, die immer auf die Zukunft verweisen. Und da die Zukunft nie determiniert ist, stellt Vertrauen eine wesentliche Grundbedingung zukunftsbezogener Entscheidungen dar. Mit Niklas Luhmann gesprochen: «Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Man könnte meinen, er überwinde die Zeit».[iii]


Nun würde es allerdings zu kurz fassen, das Vertrauensverhältnis im Versicherungswesen lediglich auf das antizipierte Einhalten des Zahlungsversprechens zu reduzieren. Viel wichtiger sind die Schritte davor, denn bevor Kund:innen ihr wohlverdientes Geld vertrauensvoll in Versicherungspolicen investieren, müssen sie glaubhaft von deren Nutzen überzeugt werden. Und dies bedeutet nichts anderes, als dass sie bestimmten Zukunftsszenarien Glauben schenken und demgemäss handeln.


Wer bei der Versicherungsthematik deshalb zunächst ein verstaubtes, dröges und viel zu mathematisches Thema vermutet, dem/der offenbart sich schnell die narrative Welt eines Geschäftsmodells, in der rationale Abwägungen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen auf Ängste, Träume und vielfältige Vorstellungen eines glücklichen Lebens treffen.[iv] Da sich dabei alles zunächst in einer Sphäre des Möglichen bzw. Imaginativen bewegt, lässt sich das Versicherungswesen auch als ein primär narratives Wirtschaftsfeld charakterisieren; als ein Geschäft des «Was wäre, wenn?».


Dem Versichern geht das Verunsichern voraus

Wann haben Sie das letzte Mal an ihren eigenen Tod gedacht? Wenn Sie jetzt sterben, wüssten Sie Ihre Hinterbliebenen finanziell abgesichert? Was wäre, wenn Sie berufsunfähig oder pflegebedürftig würden; wenn Ihr Haus abbrennt oder wenn Sie einen erbitterten Rechtsstreit führen müssten? Haben Sie vorgesorgt? Statistisch gesehen wird jede vierte Person im Laufe ihres Lebens mindestens einmal berufsunfähig! Mit einer Versicherung sind Sie im Fall der Fälle auf der sicheren Seite! Worauf warten Sie noch?


Im Kern klingen die Versicherungserzählungen alle gleich: Die Zukunft ist ungewiss und deshalb potenziell risikobehaftet. Mit der angemessenen Absicherung im Zuge eines Versicherungserwerbs liessen sich indes jedwede Risiken finanziell kompensieren. Einem sorgenfreien Ausblick auf ein gutes Leben in der Zukunft stehe somit nichts mehr im Wege.

Hier kann zunächst festgestellt werden, dass das Versicherungswesen die Ungewissheit der Zukunft antizipiert und Vorsorgeoptionen bereitstellt. Wir wissen nicht, was kommen wird, aber Leben bedarf Planung und vor allem des Eindrucks, genauer: der Erwartung, künftige Entwicklungen meistern zu können. Versicherungsabschlüsse entsprechen diesem Bedürfnis und kommen der hohen gesellschaftlichen Nachfrage nach Absicherungslösungen nach. Gleichzeitig zielen ihre Verkaufsansprachen aber auch auf die Förderung genau dieses Bedürfnisses ab. Am Beispiel des nachfolgenden Werbespots der Württembergischen Versicherung kann dieser Aspekt verdeutlicht werden. In dem Video mit dem Titel «Mein Millionenjob» werden prognostizierte Lebenseinkünfte einzelner Personen mit dem Risiko einer Berufsunfähigkeit thematisch verknüpft. Der Spot lässt sich Zeit; sorgfältig werden die verblüffend hohen Lebensverdienste akzentuiert, die dann am Schluss zur Dramatik des Risikofalls beitragen.[v]



Anhand dieses Beispiels lässt sich ein zentrales Grundmerkmal von Versicherungserzählungen charakterisieren: Durch narrative Strategien der Verunsicherung versuchen Versicherungsunternehmen ein Problembewusstsein zu schaffen und einen risikoantizipierenden Blick in den Kund:innen zu verankern. Hakuna Matata? Fehlanzeige! «Lieber auf Nummer sicher», so laute die einzig vernünftige Devise. Die Praktiken der Verunsicherung strukturieren also die Betrachtung und Bewertung von Zukünftigem, vor allem rücken sie mögliche Risiken in den Fokus und ebnen dadurch das argumentative Terrain für daran anknüpfende Vorsorgeappelle. Der Begriff der Verunsicherung zielt demgemäss weniger auf den Aspekt des Angstmachens ab, sondern vielmehr auf ein rationales Bewusstmachen des (eigenen) Nicht-Versichert-Seins angesichts perspektivierter Risiken.


In der Versicherungskommunikation werden nun diverse Verfahren angewendet, um den bedrohlichen Charakter künftiger Entwicklungen den Kund:innen imaginativ vor Augen zu führen. Sowohl Statistiken und Diagramme als auch erzählte oder animierte Fallszenarien kommen hierbei zur Geltung. Sie verleihen den Vorsorgeappellen Nachdruck und zielen auf die individuelle Einsicht des bestehenden Handlungsbedarfs ab. Wer dennoch nicht auf die Kompetenzen der Versicherer vertraut und nur unzulänglich vorsorgt, für den hat die Versicherungskommunikation mitunter nur Häme und Spott übrig. So wie im Beispiel des nachfolgenden Spots, der den Zuschauenden ein unschönes Erwachen angesichts einer unzulänglichen Zukunftsplanung vor Augen führt.



Solche Beispielerzählungen, die die Konsequenzen der eigenen Vorsorgeentscheidungen aufzeigen, sind ein wesentliches Charakteristikum in den Verkaufsansprachen von Versicherern. Die Frau in diesem Spot symbolisiert dabei nur eine Facette der Ansprache – das Negativbeispiel. Positivbeispiele gibt es auch, und das zuhauf. Auf nahezu jeder einschlägigen Versicherungswebseite finden sich Glücksmotive von ausgelassenen Menschen, die spannenden Freizeitaktivitäten nachgehen oder einfach nur selbstbestimmte Zeit mit ihren Liebsten verbringen. Generell: Zeit scheint in diesen verheissungsvollen Glücksszenarien in Fülle vorhandenen zu sein. Wohlstand auch: Das klassische Einfamilienhaus für die klassische Kleinfamilie, mit grossem Garten et cetera pp., darf – wie sollte es auch anders sein – nicht fehlen. Solche Positivbeispiele dienen in den Verkaufsansprachen dazu, das Leben nach einem Versicherungsabschluss zu imaginieren. Gleichzeitig laden sie zur Identifikation ein und zielen darauf ab, Kund:innen vom Nutzen der Vorsorgeprodukte zu überzeugen. Die Botschaft ist klar: Mit einer Police des Versicherers Ihres Vertrauens stehen Sie auf der sicheren Seite. Sie übernehmen Verantwortung, sorgen vor, und schauen Sie selbst: Es zahlt sich aus!


Aber was wird da nun genau ausgezahlt? Von was handeln die imaginativen Glücksversprechen der Versicherungsbranche? Folgt man den ausgemalten Szenarien, so wird in den Versicherungserzählungen eher ein konservatives Setting an Zukunftsaspirationen bedient, bei denen die Familiengründung, der Vermögensaufbau sowie die Absicherung des selbst Erarbeiteten im Mittelpunkt stehen. Dies mag nicht verwundern, stehen doch im Zentrum des Versicherungsgedankens Aspekte des Bewahrens und des Erhaltens liebgewonnener Lebensfacetten. Das Versicherungswesen kann deshalb im wahrsten Sinne des Wortes als strukturkonservativ bezeichnet werden. Das Kommende wird primär als gefährlich für die aktuellen Lebenslagen betrachtet. Künftiger gesellschaftlicher Fortschritt wird nicht perspektiviert; es geht um den Erhalt des Altbekannten. Zugegebenermassen – ab und an bekommt das Altbekannte dabei einen Neuanstrich verpasst, wie bei der nachfolgenden Werbung für Unfallversicherungen der Allianz. Aber handelt es sich hierbei wirklich um mehr als lediglich ein Update light? Urteilen Sie selbst:



35 Jahre sind eine wahrlich lange Zeit und es ist beruhigend, dass klassisch-fordistische Rollenklischees heutzutage auch in Werbespots von Versicherern hinterfragt und neue Lebensrealitäten dargestellt werden. Aber abgesehen davon ist es doch erstaunlich, wie sich die sozialen Settings und die sozioökonomischen Kontexte der beiden Filmebenen gleichen. Passend dazu ist auch die traditionsschwelgende Musikuntermalung, die, in guter Retromanier, noch einmal die Botschaft des Werbespots verdeutlicht. Kurz: In 35 Jahren kann sich manches ändern, der grosse Rahmen des Lebens bleibt aber gleich; genauso wie die Risiken des Lebens selbst – die bereits vor der eigenen Haustüre lauern, nur einen Fussschritt entfernt. «Hoffentlich Allianz versichert»![vi]


Der Werbeslogan «Hoffentlich Allianz versichert» bringt die Logik der Versicherungskommunikation im Grunde gut auf den Punkt. Auf der einen Seite konstruiert der Slogan ein Problembewusstsein; er evoziert geradezu eine bedrohliche Ausgangslage und das Vorhandensein eines zwingenden Handlungsbedarfs. Auf der anderen Seite verspricht er Absicherung samt einer sorgenfreien Zukunft an der Seite der Allianz.


Fazit

Wie ich in meinem Beitrag zeigen wollte, sind Versicherungserzählungen in der Regel bipolar strukturiert. Praktiken des Verunsicherns und des Versicherns gehen Hand in Hand und ergänzen sich gegenseitig. Vertrauenssemantiken spielen in diesem Wechselspiel eine entscheidende Rolle, verleihen sie doch den Versicherungserzählungen Glaubwürdigkeit. Und deshalb verwundert es nicht, dass Gütesiegeln sowie Narrativen der Integrität, der Transparenz und auch der Tradition eine hervorgehobene Aufmerksamkeit innerhalb der Versicherungskommunikation zukommt. Wie in den beiden vorhergehenden Videos aufgezeigt, nimmt hierbei auch Humor eine vertrauenskonstituierende Funktion ein, wird doch dadurch eine Bindung hergestellt, die den Eindruck des gegenseitigen Verständnisses performativ hervorbringt.[vii] Ich empfehle Ihnen in diesem Zusammenhang die Kommentarliste des Allianz-Werbespots durchzulesen, um einen Eindruck davon zu erhalten, auf welch positiven Anklang das humorvolle Video zu stossen scheint.


Zweifellos: Versicherungen erfüllen in unserer modernen Existenz eine wichtige Funktion und helfen dabei, der Kontingenz des Lebens zu begegnen. In vielen Fällen sind sie sinnvoll und eine wichtige Stütze bei der Bewältigung von Schicksalsschlägen und Missgeschicken. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Quintessenz der auf Absatzsteigerung abzielenden Versicherungskommunikation darin besteht, die Zukunft in besonders riskantem Licht erscheinen zu lassen. In der Erzählstruktur des «Was wäre, wenn?» wird mit grosser Imaginationskraft – und nicht immer akkurat – die Fülle der Gefahren aufgezeigt, die das Leben noch bereithalten könnte. Die eigene Zukunft erscheint in dieser Perspektive unsicher und prekär und Absicherungsbedarf umfassend notwendig. Ein Glück, dass Zukunft auch anders perspektiviert werden kann! Behalten Sie dies im Hinterkopf für Ihren nächsten Austausch mit dem/der Versicherungsberater:in Ihres Vertrauens.


 

[i] siehe Versicherungsboote (10.01.2019): Vertrauen in Versicherer bleibt gering. Online unter: https://www.versicherungsbote.de/id/4875046/Vertrauen-Versicherer-Trendbarometer/ [ii] Die nachfolgenden Überlegungen basieren auf meinen Forschungen zu Zukunftsimaginationen im Versicherungswesen im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Vertrauensarbeit in der Finanzökonomie an der LMU München. Die Forschungsergebnisse wurden 2021 in meinem Buch „Imaginierte (Vor-)Sorge. Zur diskursiven Konstruktion von Zukunftsvorstellungen im Versicherungswesen“ publiziert. [iii] Luhmann, Niklas (2014): Vertrauen. 5. Auflage. München, S. 9. [iv] Hierzu auch Rödder, Lukas; Speidel, Dominik (2023): Wie man das „gute Leben" absichert. Über Zukunftsszenarien im Versicherungskontext. In: Trummer, Manuel u.a. (Hg.): Zeit. Zur Temporalität von Kultur, S. 213–222.

[v] ★ Auflösung: Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Zwar mag der Lebensverdienst der Protagonist:innen den Millionensummen entsprechen, das Risiko, wonach jede 4. Person im Laufe des Lebens berufsunfähig wird, steht allerdings in keiner Relation dazu. Berufsunfähigkeit ist nicht gleich Berufsunfähigkeit; sie umfasst unterschiedliche Zeitspannen und kann auch nur für einen Zeitraum von sechs Monaten vorliegen. Auch kann sie sich erst kurz vor Rentenbeginn ereignen oder auch nur teilweise attestiert werden, sodass die Berufsausübung in eingeschränkter Form weiterhin möglich ist. Alle diese Teilfacetten mögen summiert das Wahrscheinlichkeitsverhältnis eins zu vier ergeben, allerdings sind hier dann fast ausschliesslich geringere Verdienstausfälle betroffen. In solchen Verkaufsansprachen werden Risiken also kuratiert und im Verbund so in Szene gesetzt, dass sie bestmöglich den Botschaften der Versicherer dienen.

[vi] ★ Auflösung: Vorsicht, hier fehlt das Kleingedruckte! Da es sich bei den Unfällen eindeutig um Wegeunfälle auf dem scheinbar direkten Weg zur Arbeit handelt, greift hier immer die gesetzliche (!) Unfallversicherung. Hierfür bedarf es keiner Privatabsicherung. Ferner zahlt eine private Unfallversicherung nur bei einer Invalidität, also bei einer dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigung. Eine nach wenigen Wochen auskurierte Beinverletzung – wie in den Videos scheinbar dargestellt – erfüllt diese Kriterien nicht. Hier wurde also das "Kleingedruckte" nicht abgebildet, die Botschaft des Videos erweckt deshalb falsche Erwartungen. Vgl. Weber, Barbara (28.12.2022): Unfallversicherung. Für manche wichtig, für viele verzichtbar. In: Finanztipp. Online unter: https://www.finanztip.de/unfallversicherung/.

[vii] Für den Hinweis mit der vertrauenskonstituierenden Wirkung von Humor möchte ich dem Redaktionsteam von das bulletin herzlich danken





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