Über Schweizer*innen, die Schweizer*innen anschauen, während sie von Deutschen beobachtet werden, wie sie in Deutschland Schweizer*innen anschauen.
10.11.23
«Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen im 19. Jahrhundert waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich Minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen.» Was für ein Satz! Vielleicht der grösste kulturwissenschaftliche Satz, der je in deutscher Sprache gedacht wurde.
Dieser Satz – geschrieben von Georg Simmel, gut versteckt auf Seite 486 seiner Soziologie von 1908 – hat mich, seit ich ihn vor fast 20 Jahren zum ersten Mal las, nie losgelassen. Schliesslich entfaltet Simmel hierhin die alltäglichste Alltagsszenerie – zwei Menschen sitzen sich in der Tram ganz nah gegenüber, sehen sich in die Augen, und alles was sie voneinander wissen, ist, dass sie füreinander Fremde sind, die sich als Fremde nur deswegen sehen können, weil sie einander so nah sind – zu einer Theorie des Menschen als Gesellschaftswesen. Doch auch wenn ich den Satz seit 20 Jahren kenne, habe ich ihn erst richtig verstanden und sinnlich nach-erfahren können, als ich, der Norddeutsche, nach Basel zog und begann, in Omnibussen, Eisenbahnen und Straßenbahnen das Grenzland zwischen der Schweiz und (Süd-)Deutschland zu erfahren.
Das sind ja doch merkwürdige Situationen, die dann entstehen: Man ist mit anderen Fremden im engen Raum der Tram zusammen, und überquert (EU-Aussen-)Grenzen und beobachtet sich dabei, wie man dies zusammen tut, wie man zusammen im Nah- und Fremdheitsraum der Tram den Grenzraum um einen herum durchquert. Die Kategorien des Fremden, des Eigenen sind, so wissen wir seit Simmel, als mobile Kategorien immer schon kognitive Verkehrsmittel: Im Verkehr zwischen den Menschen vermitteln sie deren Nähe und deren Ferne, wobei nicht selten der Fremde einem doch am nächsten ist.
Dieser letzte Gedanke leitet meine im SAVK publizierte ethnographische Untersuchung über Menschen, die aus der Schweiz zum Einkaufen nach Deutschland fahren. Mit Simmel interessiert mich daran, wie Menschen sich in der (vermeintlichen) Fremde nahekommen und dabei zwar einander fremd sind, aber eben doch nicht so ganz: Sie, die sog. «Einkaufstourist:innen», sind sich zumindest darin nah, dass sie aus ihrem Land in ein anderes fahren. Der Beitrag nimmt diese Konstellation zum Ausgang, um die kulturanthropologische Grundfrage nach dem (Be-)Fremden im Eigenen in empirischen dichten Situationen zu stellen, und dabei zu beobachten, wie diese Kategorien mobil werden, wegfahren, ohne die Menschen aber ganz loszulassen.
Neugierig geworden? Hier geht es zur Heftausgabe.
Dümling, Sebastian: Visiting Borderland, oder: Gesellschaft machen in der nahen Fremde. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde (SAVk) 119 (2023/1), 83–100.
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