Wenn Kinder ihre Milchzähne verlieren, kommt in vielen Familien die Zahnfee und tauscht den verlorenen Zahn gegen ein Geschenk aus. Monika Philippi fragt, was mit ausgefallenen Kinderzähnen geschieht und welche Bedürfnisse und Einflüsse bei solchen Ritualen eine Rolle spielen?
18.02.2022
Der Beitrag erschien erstmals im Bulletin 01/2015 und resultierte aus einer studentischen Arbeit. Wie blickt die Autorin heute zurück auf das Thema und ihren Artikel?
In der dem Artikel «Wackelzahn» zugrunde liegenden Seminararbeit von 2013 beschäftigte ich mich mit dem interfamiliären Umgang mit ausgefallenen Milchzähnen. Was mit der Idee zur Untersuchung des Einzugs der Zahnfee in nordwesteuropäische Haushalte (vergleichbar z.B. mit Halloween) begann, endete in einer Studie über kulturelle Techniken der Übergangs-bewältigung(en): Durch schrittweise Aufwertung von Objektkategorien wird ein abgestorbenes Körperteil in ein bedeutungstragendes Element verwandelt.
Mit dem Phänomen Wackelzahn wird ein sichtbarer, fassbarer Gegenstand Platzhalter, Anschauungsobjekt und Erinnerungsträger für das, was körperlich wie gesellschaftlich mit einem Kind sowie mit der es umgebenden Familie an bestimmten Entwicklungspunkten passiert. Solange Kinder Zahn für Zahn sowohl der eigenen Kindlichkeit als auch elterlichen Fürsorge entwachsen, wird der Umgang mit Wackelzähnen wohl ein kulturanthropologisch interessantes Thema bleiben.
Die Zahnfee kommt in der Nacht. Dem Kind, das einen Milchzahn verloren und diesen unter dem Kopfkissen platziert hat, bringt sie im Austausch gegen diesen eine Münze. Soweit der in zahlreichen Kinderbüchern und Filmen verarbeitete anglo-amerikanische Prototyp eines Phänomens, das in den verschiedensten Variationen unter der Regie sorgsamer Eltern auch in deutschsprachigen Kinderzimmern vonstatten geht. Ausgehend von solchen Beobachtungen stellt sich die Frage, was hierzulande mit ausgefallenen Kinderzähnen passiert. Gibt es die Zahnfee auch hier? Gibt es auch andere Umgangsweisen? Welche Bedürfnisse und Einflüsse spielen hierbei eine Rolle?
Um dies zu beleuchten, wurden verschiedene Familien zu ihrem Umgang mit Wackelzähnen befragt. Interessant war hierbei, dass in den einzelnen Familien oft gar kein Bewusstsein für diese Handlungen vorhanden war: Auf die Frage, was in ihrer Familie mit den Milchzähnen der Kinder nach dem Ausfallen gemacht werde, antworteten viele Eltern am Anfang des Gesprächs spontan «Wir machen nichts». Trotzdem lieferten sie alle Material für die hier vorliegenden Erkenntnisse.
Familienritual
Das Phänomen Wackelzahn ist als Familienritual zu verstehen. Indem nacheinander ausfallende Zähne identisch behandelt werden, sogar wenn sie von verschiedenen Kindern (Geschwistern) stammen, wird der typische Charakter eines Rituals als eine strukturierte, wiederholt ausgeführte kulturelle Handlung deutlich.
Beim Phänomen Wackelzahn sind die Akteure dieses Rituals ein Kind mit (angehender) Zahnlücke und zumindest ein Elternteil. Aber auch das gesamte Umfeld gestaltet Szenarien mit, die sich von Familie zu Familie unterscheiden können: Es kann die Phantasiefigur der Zahnfee einbezogen sein, die den ausgefallenen Zahn gegen ein kleines Geschenk austauscht oder diesen mit einer Gabe honoriert, ohne ihn mitzunehmen. Ausserdem können ausgefallene Milchzähne auch ganz unabhängig von der Vorstellung einer Zahnfee gesammelt und/oder mit einem Geschenk belohnt werden.
Allen Handlungsweisen ist jedoch eine spezielle Grundstruktur gemeinsam: Ein Kinderzahn fällt aus und erhält in einem ersten Schritt einen vorübergehenden Platz in unmittelbarer Nähe zum Kind neben oder im Bett. Bereits in der anschliessenden Nacht wird diese temporäre Deponierung in eine dauerhafte umgewandelt. Dabei kann der Zahn entweder einfach verschwinden (z. B. wenn die Zahnfee ihn gegen ein Geschenk austauscht) oder er bleibt erhalten und wird – an einem anderen Ort – endgültig verwahrt.
Alle diese Schritte gelten zumindest theoretisch für jeden einzelnen Zahn jedes einzelnen Kindes in einer Familie. So kann es dann fast schon zum Problem werden, wenn ein Kind seinen Wackelzahn einmal (oder gar wiederholt) verliert oder verschluckt. So ist zum Beispiel die Aufregung gross, als der kleine Viktor abends beim Zähneputzen die Mutter bittet: «Pass aber auf meinen Wackelzahn auf!» und diese nur antworten kann «Du hast ja gar keinen mehr drin». Auf diese Weise wird zumindest in seiner Aufbewahrungsdose für immer eine Zahnlücke bleiben.
Kulturelle Handlung
Obwohl die kindliche Wackelzahn-Phase (sowohl gesamthaft gesehen als auch bei jedem Zahn einzeln) eine Übergangszeit darstellt, in der man sich an den Verlust des Zahns gewöhnen könnte, scheint diese natürliche Phase den Betroffenen für eine Umgewöhnung nicht auszureichen. Die immer wieder hergestellte räumliche Nähe der ausgefallenen Zähne zum Kind ist in diesem Sinne besonders auffällig:
Durch das Behalten der Wackelzähne nach dem Ausfallen wird die Übergangsphase symbolisch verlängert. Statt dem Ablauf der Natur untergeordnet zu sein – eine Mutter beschreibt zum Beispiel den Milchzahnverlust ihres Kindes als dessen «erstes Erlebnis des menschlichen Zerfalls» – liegt die Entscheidung über die Gestaltung der Entwicklungsschritte damit bei den Betroffenen selbst. Im Falle eines Geschenkes im Austausch für den ausgefallenen Zahn wird der natürliche Ersatz (durch den nachwachsenden bleibenden Zahn) genauso symbolisch in der Zeit vorverlegt wie der (endgültige) Verlust eines Milchzahnes durch dessen Aufbewahrung hinausgezögert wird.
Ob durch Geschenkaustausch oder reine Aufbewahrung, es wird qualitativ betont, was in den Ritualtheorien Turners[1] die liminale Phase heisst: Die Schwellensituation zwischen einem Vorher und dem lebensverändernden Nachher-Zustand. Auch hier fallen wieder die Aufbewahrungsorte auf. Eine Platzierung des Zahnes in der Nähe zum Bett markiert die liminale Phase Schlaf mit seinen Schwellenzuständen Einschlafen und Aufwachen.
Das Verlieren der Milchzähne stellt einen grossen Schritt dar, der nicht zum schmerzhaften Schnitt werden soll.
Das Badezimmer als Aufbewahrungsort kann ebenso als liminaler Ort begriffen werden, er steht zwischen Alltag und Schlafenszeit, Aufwachen und aufgestanden Sein und insbesondere zwischen ungeputzten und geputzten Zähnen. Im Badezimmer blickt ein Kind an einem Morgen mit tadellosem Lächeln in den Spiegel, wo ihm am nächsten Morgen eine Zahnlücke entgegenklafft.
Potentiellen und tatsächlichen negativen Auswirkungen eines ausgefallenen Wackelzahns, wie Verlustangst, Schmerzen, Scham oder allgemein der Furcht vor Veränderungen, wird auf möglichst positive Weise entgegengewirkt. Um ganz sicher zu gehen, kommt beispielsweise in einer Familie «die Zahnfee dann auch noch zusätzlich [zum Aufbewahrungsritual], weil das ist so ein schönes Ereignis».
Nutzen für Eltern und Kinder
Gemeinsam ist allen Beteiligten daher vor allem die Einsicht, dass das Verlieren der Milchzähne in der Entwicklung eines Kindes einen grossen Schritt darstellt, der nicht zum schmerzhaften Schnitt werden soll. Worin dieser Schritt besteht, wird unterschiedlich gesehen; jedenfalls scheint der ausgefallene Wackelzahn einen zu grossen Wert zu besitzen, um den biologischen Vorgang einfach auf sich beruhen zu lassen. Er symbolisiert beispielsweise die erste Erfahrung von körperlicher Beeinträchtigung und physischer Entwicklung.
Diese körperlichen Aspekte stehen dabei gleichzeitig oft für soziale Meilensteine wie das Erreichen der Schulreife, das Verlassen der Kleinkindphase oder das Erwachsenwerden generell. Die hinter sich gelassene Stufe, ob der soziale oder der physische Aspekt als überwiegend empfunden wird, soll noch eine Zeit lang durch die Präsenz eines Reliktes visualisiert werden können – und zwar sowohl für die Kinder als auch für deren Eltern.
Das Bestreben, den Zahn von einem abgestossenen Körperteil in ein bedeutungstragendes Element zu verwandeln, zeigt sich besonders deutlich in dem spontanen Ausruf einer Befragten: «Das kann man doch nicht einfach wegwerfen!» Es geht also oft nur vordergründig um einen Übergang, der zwei Lebens- beziehungsweise Entwicklungsphasen des jeweiligen Kindes markiert. Es scheint hinter all den Wackelzahn-Praktiken und den argumentativen Erklärungsmustern sehr oft viel eher um die Eltern zu gehen: Das regelmässige Verschlucken der Wackelzähne des kleinen Emil scheint für diesen selbst kein Problem darzustellen, seine Mutter hingegen ist untröstlich, die alte Familientradition der Zahnfee bei ihm nicht nach ihren Vorstellungen durchführen zu können.
Im Gegensatz zu einer bei der älteren Generation (Eltern über 50) festgestellten Tendenz zur Reaktivität – abwarten, wie das Kind die Situation empfindet und dann individuell handeln oder auch nicht – ist der Umgang mit Wackelzähnen besonders bei jüngeren Eltern (unter 40) stark vorausgeplant. Sie zeigen fast ausnahmslos klare Vorstellungen von der grundsätzlichen Notwendigkeit einer Bewältigungsstrategie und legen deren Ausgestaltung fest, ohne das jeweilige Kind und dessen eventuelle Bedürfnisse mit einzubeziehen.
Der Wackelzahn wird sicht- und fassbarer Gegenstand, Platzhalter, Anschauungsobjekt und Erinnerungsträger für das, was mit einem Kind, aber auch mit seiner Familie, an einem bestimmten Punkt von dessen Entwicklung passiert. Denn gerade auch für die Eltern ist jeder Entwicklungsschritt ihres Kindes ein zu bewältigendes Ereignis; ein Abschiednehmen von Vergangenem, ein Verdeutlichen eines sonst eher unmerklichen Prozesses, der das Kind schlussendlich hinaus aus der Abhängigkeit von den Eltern führen wird.
[1] Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Antistruktur. Studienausgabe. Frankfurt a. M. 2000, S. 95.
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